Prolog

Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Manager. Bei den Niederländischen Eisenbahnen. Und Sie stünden vor einer unmöglichen Herausforderung …

Wir schreiben das Jahr 2003, es ist Spätsommer. Wie in Deutschland hat auch die Bahn in den Niederlanden mit technischen Defekten, schneebedingten Zugausfällen, Stürmen und sonstigen widrigen Wetterbedingungen, damit verbundenen Verspätungen und obendrein mit der oft ungeschickten oder fehlenden Kommunikation im Hinblick auf diese Vorfälle zu kämpfen. Nach einigen anstrengenden Jahren mit viel Unruhe im Unternehmen ist die Pünktlichkeit auf einem historischen Tiefpunkt angekommen. Nur noch rund 83 Prozent der Züge kommen inzwischen zum vorgesehenen Zeitpunkt an, und das Verhältnis der Kunden zur nationalen Eisenbahngesellschaft lässt sich wohl am ehesten als gespalten beschreiben. Auch wirtschaftlich herrschen schwierige Zeiten. Als privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen in Staatsbesitz haben die Niederländischen Eisenbahnen keine Möglichkeit, die Preise frei zu gestalten, und die Regierung hat im Einvernehmen mit den Konsumenten- organisationen beschlossen, eine Preisanpassung an die Inflationsrate erst dann vorzunehmen, wenn die Pünktlichkeit und damit die Leistung wieder stimmt. In Zahlen ausgedrückt heißt das: eine Steigerung auf 84,4 Prozent im Jahresdurchschnitt bis zum festgelegten Stichtag am 1. Juli des darauffolgenden Jahres.

Um das Pünktlichkeitsziel von 84,4 % im Jahresdurchschnitt zu erreichen,
benötigen Sie eine Steigerung, die es noch nie gab!

Das heißt, dass jeder Tag, an dem Sie als verantwortlicher Manager bei den Niederländischen Eisenbahnen nichts unternehmen, ein weiterer Tag ist, der den Durchschnitt negativ beeinflusst. Denn wir haben bereits Ende September, und der eingeforderte Wert wird vom 1. Juli 2003 bis zum 1. Juli 2004 ermittelt. Damit sind bereits fast drei Monate verstrichen, in denen nichts passiert ist, und der Einnahmeverlust durch den weiteren Aufschub der seit Jahren überfälligen Preisanpassung beläuft sich mittlerweile auf über mehrere Millionen Euro. Die Zeit drängt also.

Als alteingesessener Manager, der mit den Gepflogenheiten der Branche bestens vertraut ist, können Sie nun natürlich den traditionellen Weg beschreiten. Den Weg, der in den meisten Unternehmen, die sich mit solch einer Fragestellung auseinandersetzen müssen, eingeschlagen wird.

Sie lassen also erst einmal eine Analyse machen und versuchen herauszufinden, warum so viele Züge nicht pünktlich ankommen. Schließlich wollen Sie nicht in blinden Aktionismus verfallen, sondern die Probleme gezielt angehen, und dazu müssen Sie diese erst einmal genau kennen. Das Ergebnis der Analyse, das nach einigen Wochen vorliegt, listet in eindrucksvollen Details die unterschiedlichsten Gründe für die vielen Verspätungen auf. Sie ziehen daraus Ihre Schlussfolgerungen und diskutieren diese anschließend mit dem Vorstand, der auf einige Nachbesserungen besteht. Da alle Beteiligten wissen, dass ihnen die Zeit davonzulaufen droht, handeln sie ungewohnt schnell, und so können Sie drei Monate nach dem Startschuss endlich den Abschlussbericht der Pünktlichkeitsanalyse vorlegen.

Sie sind froh, denn endlich können Sie zur Tat schreiten und die vorgeschlagenen Maßnahmen implementieren. Sie laden also die verantwortlichen Manager zu einer oder mehreren Präsentationen ein, teilen ihnen die Ergebnisse des Projektberichts mit und entlassen sie aus der Sitzung mit dem Auftrag, die dringendsten Probleme sofort anzugehen.

Höhere Pünktlichkeit durch möglichst genaue Vorgaben, strikte
Anweisungen und wenig Freiräume – die etablierte Methode zum Erfolg?

Da die Analyse unter anderem ergeben hat, dass vor allem die vielen kleinen Verspätungen von nur wenigen Sekunden oder Minuten einen großen Anteil am Gesamtwert haben, arbeiten die Manager neue Arbeitsanweisungen für die Lokomotivführer und Schaffner aus. Darin wird den beiden Gruppen – in der Hoffnung auf eine möglichst geringe Fehlerquote – bis ins Detail vorgeschrieben, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben, um all die leicht vermeidbaren Verspätungen zu verhindern. So sollen sie sich künftig etwa nicht mehr kurz vor der Abfahrt noch schnell einen Kaffee am Kiosk holen und auch nicht mehr auf die Reisen- den warten, die in letzter Minute auf den Bahnsteig rennen, und sich nicht mehr zwischen zwei Einsätzen mit ihren Kollegen unterhalten, sondern die offiziellen Pausen für Gespräche nutzen. Zwischendurch werden immer mal wieder sorgsam vorbereitete Sitzungen mit den Schaffnern und Lokomotivführern einberaumt, in denen das Zahlenmaterial diskutiert wird.

Die Zeit geht ins Land, irgendwann ist es Februar, und es werden erst einmal Besprechungen mit Schaffnern und Lokomotivführern anberaumt, die eine wesentliche Rolle beim Erreichen der Unternehmensziele in Sachen Pünktlichkeit spielen. Die Sitzungen werden detailliert vorbereitet, man trainiert noch die verantwortlichen Teammanager, damit diese ihren Schaffnern erzählen, dass sie doch bitte schön ihre Arbeit noch genauer und besser machen sollen. Bis zum Stichtag sind es nur noch vier Monate, und bisher ist die Zahl der Züge, die aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen pünktlicher angekommen sind als vorher, verschwindend gering.

Ihnen als verantwortlichem Manager für die Umsetzung dieser Maßnahmen könnte man nicht mal einen Vorwurf machen, immerhin gibt es für jede einzelne der von Ihnen eingeleiteten Maßnahmen gute Gründe – und stützende Zahlen. Außerdem haben Sie gehandelt, wie es zahllose Manager in zahllosen Unternehmen tagtäglich tun. Weil sie es schon immer so gemacht haben und diese Maßnahmen etabliert sind.

Es ginge auch anders.

Nämlich so, wie es bei den Niederländischen Eisenbahnen im Frühjahr 2004 tatsächlich vonstattenging. Das Problem mit der Pünktlichkeit und der möglichen Einnahmesteigerung durch die längst hinfällige Anpassung der Preise war nach insgesamt knapp sechs Monaten also immer noch nicht gelöst, da sich niemand in der ersten Instanz die Finger daran hatte verbrennen wollen. Doch dann fanden ein paar Menschen, dass man etwas probieren sollte, und luden ein paar Mitdenker ein mit der Idee:

„Wir haben weder Zeit für ausufernde Analysen noch für langwierige Besprechungen. Eigentlich wissen wir auch, was der Kern des Problems ist: die paar Sekunden oder Minuten Verspätung, die man ohne große technische Eingriffe reduzieren kann. Die Menschen, die uns diese Zeit liefern, sind die Schaffner und Lokomotivführer vor Ort. Sie müssen wir dazu bringen, engagiert und kreativ an dem Problem mitzuarbeiten, anstatt ihnen immer mehr Vorgaben zu machen.“

Nach einem produktiven Treffen mit dem eingeladenen Team von Querdenkern aus allen Unternehmensteilen entstand das Projekt mit dem programmatischen Namen »Keine Zeit zu verlieren«. An die Stelle von noch mehr Analyse trat ein Spiel, bei dem die Teilnehmer für gesteigerte Pünktlichkeit Punkte auf einem Konto sammeln konnten. Damit waren genügend Anreiz und Spaß vorhanden, und so bildeten sich 13 Teams von Schaffnern und Lokomotivführern, die sich fortan »Zeitsparer« nannten. Alle Teams waren eingeladen, jeweils eine Zugverbindung zu adoptieren, für die sie von nun an verantwortlich waren. Ihre Aufgabe: dafür zu sorgen, dass auf der Linie die Pünktlichkeit stieg. Und zwar kräftig!

Denn es war inzwischen bereits Februar, und den Teams blieb nicht mal mehr ein halbes Jahr. Dadurch waren aus den 1,4 Prozentpunkten, um welche die Pünktlichkeit gesteigert werden sollte, inzwischen 2,8 Prozent geworden – schließlich musste das erste Halbjahr kompensiert werden. Die wichtigste Botschaft von den Verantwortlichen an die Teams lautete: Plant nicht zu viel, sondern probiert vor allem aus. Auch die verrücktesten Ideen sind willkommen. Egal, was ihr machen wollt, im Prinzip lautet unsere Antwort immer »Ja«, und wir werden euch unterstützen, indem wir die bestehenden bürokratischen Hürden abschaffen.

Die Teams waren erst skeptisch, dann hochmotiviert. Vor allem, als es darum ging, Dinge auszuprobieren, von denen man schon immer fand, dass sie anders sein müssten.

Ein Team schraubte die Klappstühle in den Eingangsbereichen der Züge heraus, um mehr Platz zu schaffen und so die Zeit für das Ein- und Aussteigen zu verkürzen. Während des Versuchs standen Teammitglieder auf den Bahnsteigen und stoppten sekundengenau den Zeitgewinn gegenüber der bisherigen Situation. Schnell fanden sie heraus, dass diese Maßnahme nicht wie erhofft wertvolle Minuten, sondern nur ein paar Sekunden brachte und gleichzeitig den Reisenden im Berufsverkehr wichtige Sitzplätze wegnahm. Durch den Freiraum, erst die eigenen Ideen auszuprobieren, entstand die Bereitschaft, auch an ganz andere Dinge zu denken.

Ein Zugführer hatte die Idee, mehr Platz zum Aussteigen zu schaffen, indem er erst langsam in den Bahnhof einfuhr, um dann, sobald sich dort, wo die Reisenden die Türen vermuteten, Menschentrauben auf dem Bahnsteig gebildet hatten, einfach noch 20 Meter weiterzufahren. Man kann von der Idee halten, was man will – sie brachte tatsächlich einen Zeitgewinn, und der Lokführer gewann damit den Preis für die absurdeste Idee, die trotzdem einen Beitrag zum Gesamtergebnis leistete.

Allwöchentlich wurde eine Übersicht mit dem neuesten Punkte- stand erstellt und an alle Teilnehmer geschickt, die bereits gespannt darauf warteten. Wie weit war das gemeinsame Sparguthaben gewachsen? Wie ging es bei den einzelnen Teams voran? Wer hatte die Nase vorn? Und bei den monatlich stattfindenden, gemeinsam vorbereiteten Treffen tauschten sich die Teilnehmer aus, diskutierten weitere Ideen und bereiteten neue Maßnahmen vor. Die Bereitschaft, mehr zu tun als bloß Dienst nach Vorschrift, war bei allen Beteiligten sehr hoch, und das Projekt entwickelte dank des Wettkampfcharakters plötzlich eine riesige Eigendynamik. Die Schaffner und Lokführer engagierten sich nicht, weil das Management es ihnen vorgab, sondern weil sie selbst zu der Schlussfolgerung kamen, dass Pünktlichkeit ein Teil ihrer Berufsehre war. Und weil es auf einmal Spaß machte, pünktlich in den Zielbahnhof einzufahren.

So geschah, was niemand für möglich gehalten hatte: Bereits im Mai 2004 hatten die Teams die Schallmauer von 84,4 Prozent durchbrochen. Sie hatten damit eine der eindrucksvollsten Pünktlichkeitssteigerungen in der Geschichte der Niederländischen Eisenbahnen hingelegt. Und ganz nebenbei hatten sie für ihr Unternehmen mehrere Millionen Euro an dringend benötigten Einkünften sichergestellt.

Und das allein dadurch, dass sie ihre Arbeit zum Spiel gemacht hatten.

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